Vaterunser

Carola Kern | Lemgo

Als die Schüsse fielen, konnte ich noch handeln, noch selbst entscheiden und mich mit der 
ganzen Kraft des Überlebenswillens instinktiv fallen lassen, um aus der Schusslinie zu geraten.
Kurz darauf wurde ich in Handschellen abgeführt, war nicht mehr selbstbestimmt und hatte keine Chance mehr, der Staatssicherheit zu entkommen.

Es gab kein Weiter und kein Zurück, ich war angekommen am Point of no Return.

Kalt war es in jener Nacht. Ungewöhnlich kalt für eine Julinacht, erst recht nach einem so außerordentlich heißen Tag wie dem vergangenem. Das T-Shirt, das ich trug, war klamm, die Jeans klebte an meinen Beinen, und meine Füsse waren so kalt, dass ich sie kaum mehr spürte. Ich lehnte noch immer an der Wand und versuchte, die Dimensionen des Raumes, in dem ich mich befand, zu erfassen. Eng war es. Bedrückend eng. Ungefähr einen Meter vor mir stand eine Holzpritsche mit einer zusammengefalteten Filzdecke und einem Ding, das wie ein vollgestopfter Sack aussah. Ich konnte es nicht genau erkennen und ekelte mich davor, es zu ertasten. Links neben mir, in etwa zwei Meter Entfernung stand etwas auf dem Boden, ein Kübel oder ein Eimer mit Deckel. Nur Zentimeter weiter war der Raum zu Ende. Irgendwo dort war eine Tür. Sie war verschlossen.  Als man mich Stunden zuvor in diesen Raum geschoben und hinter mir die Tür verriegelt hatte, drehte ich mich sofort um und tastete hastig an ihr. Dabei wurde ich immer panischer. Es gab keine Türklinke. Nur ein kleines Loch in Augenhöhe, einen Spion, durch den nicht einmal ein Finger passte. Sie haben mich wohl beobachtet, wie ich noch an dieser Tür stand, und sie schlugen dagegen, was fürchterlich laut war. Ebenso das Gebrüll in einer Sprache, die ich nicht verstand, aber es klang bedrohlich, und so ließ ich von der Tür ab.

 

Fahles Mondlicht traf den steinigen Boden inmitten des Raumes, zerschnitten vom Schatten der Gitter vor dem heruntergeklappten, offenen Fenster.
Ich war in einer Zelle, in einem Gebäude welches ich von aussen nie gesehen hatte und das, so ahnte ich, irgendwo bei Banská Bystrica stand.

In dieser Nacht hatte ich Angst, Angst vor dem Unausweichlichen, der Ungewissheit, mit welcher Härte das System mit mir als Republikflüchtige nach der Überstellung an die DDR verfahren würde.

 

In diesen Stunden, Tagen der Angst, aus denen viele Monate wurden, zog ich mich ganz tief in mein Innerstes zurück bis in die mittigste Zelle meines Ichs und verharrte dort, um den Schmerz der Hilflosigkeit, die Ohnmacht des Ausgeliefertseins zu ertragen.

 

Banská Bystrica war nur die erste Station der insgesamt dreiwöchigen Odyssee durch die damalige Tschechoslowakische Sozialistische Republik. Ein paar Tage Brno und noch zehn endlos scheinende Tage und Nächte in einer feuchten Kellerzelle in Prag, bevor ich mit einer eigens für Gefangenentransporte gecharterten Maschine der „Interflug“ zurück in die DDR überführt wurde.

 

Es folgten vier Monate Untersuchungshaft in Schwerin. Zermürbende, bevorzugt nächtliche Verhöre, Wochen der totalen Isolation und immer wieder neue psychologische Schikanen. Bis auf den Einsatz physischer Gewalt wurde nichts ausgelassen, um meinen Lebensentwurf ins Reich der Märchen abzuschmettern.

Ohne Vorankündigung, an einem verregneten Novembertag wurde ich ins Gericht gebracht. Eine kurze Verhandlung, eine Farce, bei dem mein Rechtsanwalt nur reine Formsache war und der Urteilsspruch vom Richter auf Geheiß der Staatssicherheit verlesen wurde. Achtzehn Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Achtzehn Monate Haft, weil ich in dem anderen Deutschland leben wollte.

 

Endstation Bautzen II, Etage vier,
„Verwahrraum“ drei. Einzelhaft.

 

Woran orientiert man sich, hält sich aufrecht, wenn in der einen umgebenden Wirklichkeit nichts vorhanden ist, was einen optimistischen zukunftsweisenden Blick erlaubt? Wenn der Glaube an das Gute, an den Funken Menschlichkeit der Machthaber erloschen ist? In dieser dunklen Zeit habe ich oft, obwohl ich nicht religiös geprägt war, das Vaterunser leise in mich hinein gesprochen. Immer wieder und wieder wie ein Mantra. Damit beruhigte ich mich, trocknete meine Tränen und hielt mich am Leben. Heilsam war für mich damals weniger der Inhalt, sondern mehr das Ritual der Meditation.

 

Mit dem Abstand von 30 Jahren und der Auseinandersetzung mit meiner Biografie, nähere ich mich mit den Mitteln der Kunst, der Malerei, erneut diesen Zeilen und hinterfrage aus heutiger Perspektive deren Sinn. Welche Werte weisen die Zeilen des Vaterunser? Sind sie Saat des Mutes oder – völlig unvereinbar mit unserem heutigen Selbstverwirklichungswahn – Aufforderung zur Schicksalsergebenheit? Dabei begebe ich mich zurück zum Anfang, zur Geburt des Gebets und schlage den Bogen bis zur Gegenwart, ohne das Dazwischen zu vernachlässigen.

 

Die im Bilderzyklus „Vaterunser“ gemalten Reflexionen unscheinbarer Momente, die Ansichten dessen, was gesellschaftlich ausgeblendet oder medial geächtet wird, die Visionen und Interpretationen lassen Wertevorstellungen in ein ethisches Paradox abdriften. Sollen und können wir wirklich unseren Schuldigern vergeben? Ist Versuchung nicht etwas zutiefst Menschliches? Und wenn wir es schon nicht verleugnen können, ist das die Triebfeder unseres Daseins oder rudimentärer Rest aus archaischen Zeiten, um dessen Überwindung wir bitten?

 

Können wir uns durch das Bittgebet unserer Schuld einfach so entledigen und damit unsere Biografien überschminken? Wessen Namen sind uns heilig und wissen wir überhaupt noch, unser täglich Brot zu schätzen in dieser Welt der Beliebigkeit? Ist die unsere Kultur prägende Religion noch tragfähige Basis?

In der künstlerischen Auseinandersetzung, im Ringen um Antworten ist die realistische Malerei für mich der Weg, thematisch die Tiefe auszuloten, die Komplexität in widersprüchlichen Bilderwelten zu erfassen. Dem Betrachter eröffne ich die Möglichkeit, die Vereinbarkeit des menschlichen Urgrunds Anarchie mit theologischen Dogmen, die das Gerüst für unsere Zivilisiertheit bilden, zu hinterfragen.

 


Carola Kern

Am Weidenkamp 13
32657 Lemgo    
                                            
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